Lübeck, August 2017
Gebührenbescheide über
Straßenreinigung und Winterdienst
Thomas Klempau, DMB Mieterverein Lübeck
Presse-Info vom
10.11.2017
Appell an die
Politik
vom 23.11.2017
Mit
Urteil vom 15. Mai 2017 hat das
Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht festgestellt, dass die
Kalkulation zur Bemessung der Straßenreinigungs- und
Winterdienstgebühren für die Periode 2015 bis 2017 fehlerhaft und die
entsprechenden Regelungen aus der Straßenreinigungs- und
Straßenreinigungsgebührensatzung der Hansestadt Lübeck unwirksam sind.
Das Einbringen des Defizits aus der Periode 2010
bis 2012 in Höhe von 3,3 Mio Euro in die Kalkulationsperiode 2015 bis
2017 verstößt gegen den dreijährigen Ausgleichszeitraum des
§ 6 Abs. 2
S. 9 Kommunalabgabengesetz (KAG). Des Weiteren ist der mit 15 Prozent angesetzte städtische
Eigenanteil an den Gebühren nach Auffassung des Gerichts "deutlich" zu niedrig bemessen und sind Bedenken
hinsichtlich einer plausiblen Verteilung des Defizits auf die
Bereiche Straßenreinigung und Winterdienst geäußert worden.
Konsequenzen des Urteils
Ein nicht ordnungsgemäß ermittelter Gebührensatz ist
unwirksam. Ebenso unwirksam ist daher ein Gebührenbescheid, der als Grundlage
für eine Gebührenforderung auf einen fehlerhaften Gebührensatz abstellt.
Der Mieterverein erwartet, dass die Hansestadt Lübeck die Gebührensätze
rückwirkend zum 1.1.2015 unter Herausnahme des Defizits aus der Kalkulationsperiode 2010 bis 2012 neu
ermittelt, den städtischen Eigenanteil mit mindestens 25 Prozent ansetzt
und entsprechend geänderte Bescheide erlässt. Darüber hinaus
wird erwartet, dass die Vollziehung von Gebührenforderungen aus den
unwirksamen Bescheiden ab Rechtskraft des Urteils bis zum Erlass neuer
Gebührenbescheide ausgesetzt wird.
Blickwinkel Mieterhaushalte
Eine
Verpflichtung der Stadt zur Abänderung rechtswidriger Bescheide
über
Straßenreinigungs- und Winterdienstgebühren ab Veranlagungsjahr 2015 besteht nach
unserer Auffassung auch gegenüber Bescheidadressaten, die als
Vermieterin oder Vermieter die Straßenreinigungs- und
Winterdienstgebühren in einer Betriebskostenabrechnung an ihre Mieter
weiterreichen und keinen
Widerspruch gegen den Bescheid erhoben haben, wodurch dieser
bestandskräftig geworden ist. Die Erwägungen sind dabei folgende:
Rechtliche Gesichtspunkte
Gemäß
§ 15 KAG
beträgt die Festsetzungsfrist, bei der es sich
um eine Verjährungsregelung handelt, 4 Jahre. Nach Ablauf der
Festsetzungsfrist, die mit Ablauf des Jahres
beginnt, in dem die Gebühr entstanden ist, ist eine Aufhebung oder
Änderung einer bestandskräftigen Gebührenfestsetzung nicht mehr möglich
(absolute Rücknahmesperre). Die Festsetzungsfristen für die
Gebührenjahre ab 2015 laufen also frühestens erst ab Ende 2019 ab, so dass
eine Aufhebung oder Änderung auch bereits bestandskräftiger
rechtswidriger Bescheide über Straßenreinigungs- und
Winterdienstgebühren grundsätzlich möglich ist.
Gemäß
§§ 11 Abs. 1 KAG,
130 Abs.
1 Abgabenordnung kann
ein rechtswidriger Bescheid, auch nachdem er unanfechtbar geworden
ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder Vergangenheit
zurückgenommen werden.
Auf der Rechtsfolgenseite wird der
Kommune Ermessen ("kann") eingeräumt. Bei der Ausübung des
Rücknahmeermessens ist zu berücksichtigen, dass dem Grundsatz der
materiellen Gerechtigkeit, der für die Korrektur unrichtiger
Bescheide spricht, kein größeres Gewicht zukommt als dem Grundsatz
der Rechtssicherheit, der das Festhalten an der Bestandskraft
rechtswidriger Bescheide begründen kann, sofern dem anzuwendenden Recht
nicht ausnahmsweise eine andere Wertung zu entnehmen ist. Ein Vorrang
der materiellen Gerechtigkeit ist geboten, wenn die Aufrechterhaltung
rechtswidriger Bescheide schlechthin unerträglich wäre
oder Umstände gegeben sind, die ein Festhalten der Kommune an der
Unanfechtbarkeit der Bescheide als Verstoß gegen die guten Sitten
oder gegen Treu und Glauben erscheinen lassen.
"schlechthin unerträglich"
Zweifelhaft ist bereits, ob es
einem "durchschnittlichen" Gebührenschuldner überhaupt zumutbar und
möglich gewesen wäre, den Einwand, dass die Kostenunterdeckung
aus der Kalkulationsperiode 2010 bis 2012 nicht in der
Kalkulationsperiode 2015 bis 2017 berücksichtigt werden durfte und der
städtische Eigenanteil zu niedrig bemessen worden ist, hinreichend
substantiiert in einem Rechtsbehelfsverfahren darlegen zu können.
Ganz entscheidend ist jedenfalls
aus Sicht der Gewerbe-
und Wohnraummieter, die den überwiegenden Teil aller Haushalte in Lübeck
ausmachen und nahezu sämtlich die Straßenreinigungs- und
Winterdienstgebühren im Zuge ihrer Betriebskostenabrechnungen letztendlich
zu tragen haben, dass sie nicht die Bescheidadressaten sind und daher
regelmäßig keine Kenntnis erhalten, wann ihrem Vermieter ein
Gebührenbescheid zugestellt worden ist und ob er fristgemäß Widerspruch
erhoben hat. Die Neigung von Vermietern zu Widersprüchen gegen
Bescheide über Gebühren, die vollständig auf Mieterhaushalte
abgewälzt werden können, ist ohnehin nicht besonders groß und die
Möglichkeiten eines Mieters, den Vermieter zur Beschreitung eines Rechtsbehelfsverfahrens
zwingen zu können, eher theoretischer Natur. Aufgrund dieses
Informationsvakuums und der faktischen Wehrlosigkeit einer derart großen
Einwohnerschaft gegen rechtswidrige Gebührenbescheide, wäre es schlechthin unerträglich, dem Grundsatz der Rechtssicherheit hier das größere
Gewicht beizumessen und nur die angefochtenen Bescheide abzuändern. Denn
ein
Mieter, der bei lebensnaher Betrachtung keine realistische Chance hat, sich im Wege
eines dafür notwendigen Rechtsbehelfsverfahrens gegen eine überhöhte
Gebührenbelastung wehren zu können darf nicht gleichgestellt werden mit
einem Gebührenschuldner, der keinen Widerspruch gegen seinen
Gebührenbescheid erhebt und damit Gefahr läuft, eine möglicherweise
rechtswidrige und nunmehr bestandskräftige Gebührenforderung gegen sich wirken
lassen zu müssen.
Fair geht vor
Der überwiegende Teil der Lübecker Haushalte, die die
rechtswidrig und überhöht festgesetzten Straßenreinigungs- und
Winterdienstgebühren letztendlich bezahlen müssten, wären diejenigen,
die mit Erhalt der Betriebskostenabrechnung 2015 irgendwann im Jahr
2016, also durchschnittlich etwa eineinhalb Jahre nach Ablauf der
Rechtsbehelfsfrist erstmals mitbekamen, ob sich die Gebühren in ihrem
Fall überhaupt drastisch erhöht haben. Sie konnten einen etwaigen
Kostenanstieg erst in diesem Zeitpunkt beim Vermieter ansprechen
und ihn um Nachweis durch Vorlage des Gebührenbescheides
bitten, der inzwischen längst bestandskräftig geworden war, sofern er
nicht vom Vermieter angefochten worden ist, was nur in seltenen Fällen
erfolgt sein dürfte. Insofern ist bereits aus Gründen der Fairness zu fordern, dass die Hansestadt Lübeck
nicht nur die angefochtenen Gebührenbescheide, sondern auch die von Vermieterinnen und Vermietern
nicht angefochtenen Bescheide im Rahmen ihres Rücknahmeermessens aufhebt und neue Gebührenbescheide erlässt mit
gerichtskonformen Gebührensätzen.
Gebührensätze neu kalkulieren
Gerichtskonform bedeutet in diesem Fall, dass die
Gebührensätze rückwirkend ab 1.1.2015 neu berechnet werden müssen. Eine
Berücksichtigung des Defizits in Höhe von 3,3 Mio Euro aus
der Kalkulationsperiode 2010 bis 2012 ist nach unserer Lesart des
Urteils jetzt nicht mehr möglich. Das hätte aufgrund der dreijährigen
Ausgleichsfrist des § 6 Abs. 2 S. 9 KAG bis spätestens Ende 2016
bewirkt, also abgeschlossen sein müssen, und zwar auf Basis
rechtswirksamer oder auf Basis rechtswidriger und zwischenzeitlich
bestandskräftiger Gebührenbescheide, sofern deren Aufrechterhaltung
nicht schlechthin unerträglich, sittenwidrig oder treuwidrig wäre. Da
die ab 2015 erlassenen Bescheide rechtswidrig waren und wir uns
bereits im Jahr 2017 befinden, ist es für eine Berücksichtigung des
Defizits im Zuge einer vorzunehmenden Neuberechnung der
Gebührensätze jetzt zu spät, da es sich bei der Ausgleichsfrist um
eine restriktiv auszulegende Ausschlussfrist handelt und man das Zeitrad
nicht einfach auf das Jahr 2013, in dem die Kostenunterdeckung festgestellt
worden war, zurückdrehen und so tun kann, als wäre die dreijährige
Ausgleichsfrist bzw. das Jahr 2016 noch nicht abgelaufen.
Zum städtischen Eigenanteil: Wenn Gerichte von
"erheblich" oder "wesentlich" sprechen, spielt oft ein
10-Prozent-Wert eine Rolle, wie beispielsweise im Zusammenhang mit Mietminderungen
oder bei Wohnflächenabweichungen. Insofern kann der Hinweis des OVG Schleswig auf einen "deutlich"
zu niedrig bemessenen städtischen Eigenanteil dahingehend zu verstehen
sein, dass er um mindestens 10 Prozentpunkte höher ausfallen und
daher mindestens 25 Prozent betragen müsste.
Die hier
dargestellten Sichtweisen und Standpunkte wurden dem für diesen Bereich
zuständigen Senator der Hansestadt Lübeck, Ludger Hinsen, am 31.7.2017
schriftlich vom Mieterverein mitgeteilt. Das Urteil des OVG Schleswig
ist mit Ablauf des 11.8.2017 rechtskräftig und damit unanfechtbar
geworden.
Hier ein Beitrag
zu dieser Pressemitteilung in der MieterZeitung
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