Lübeck, 21. Juli 2023

Wohnungsmarktbericht Lübeck 2022

Thomas Klempau, DMB Mieterverein Lübeck

Der Wohnungsmarktbericht Lübeck 2022 verharmlost durch zurückhaltende Aussagen die starken Anspannungen des Lübecker Wohnungsmarktes, verschweigt Fehlentwicklungen im Wohnungszusatzneubau, der sich nicht am dringend notwendigen Bedarf orientiert und spricht von einem angeblich ausreichend großen Bestand preisgünstiger Mietwohnungen, der für Wohnungssuchende in der Realität jedoch nicht verfügbar ist.

Es ist zu kritisieren, dass der Wohnungsmarktbericht, der bis 2020 jährlich erstellt und regelmäßig im November veröffentlicht worden war, nur noch alle zwei Jahre erscheinen soll, und das in einer Zeit, in der sich die Anspannungen des Lübecker Wohnungsmarktes extrem zuspitzen und es gerade jetzt wichtig ist, möglichst zeitnah einen Blick auf die Situation im Bereich des Wohnens als existentielle Grundversorgung zu erhalten, um rechtzeitig reagieren und die Weichen in die hoffentlich richtige Richtung stellen zu können. Bisher wurden die Berichte alle zwölf Monate vorgelegt. Seit dem letzten Bericht hat es 32 Monate gedauert. Insofern ist zu fordern, die Berichte wieder jährlich zu erstellen.

In dem knapp 30-seitigen Bericht wird an keiner Stelle klar dargestellt, dass in Lübeck aktuell mehrere tausend Wohnungen fehlen, und zwar nach unseren Berechnungen mindestens 8.000 Einheiten. Im Statistischen Jahrbuch der Hansestadt Lübeck 2019-2022 ist nachzulesen, dass die Einwohnerzahl im Jahr 2022 sprunghaft um 2.021 auf 222.077 Personen gestiegen und Ende 2021 ein Wohnungsbestand von 120.537 Einheiten vorhanden gewesen ist. Unter Ansatz eines Umrechnungsfaktors von 1,78 Personen pro Haushalt und Berücksichtigung einer Mobilitätsreserve von 3 Prozent ergibt sich ein Bedarf von 128.500 Wohnungen im Miet- und Eigentumssegment. Es ist zu beanstanden, dass diese Ausgangssituation weggelassen oder in Prognosedarstellungen verborgen wird, bei der die Zielmarke der Bedarfsermittlung mit dem Jahr 2040 weit in die Zukunft verlagert und dadurch der Anschein erweckt wird, dass man mit Baufertigstellungen von durchschnittlich 600 Wohneinheiten pro Jahr den Bedarf bis dahin problemlos befriedigen könne. Die Tatsache, dass aber schon jetzt ein Versorgungskrater von 8.000 Wohnungen klafft, der dringend und nicht erst in den nächsten siebzehn Jahren geschlossen werden sollte, wird bei einer solchen Darstellung verschleiert.

Der weitere Rückgang der Leerstandsquote von 0,8 auf 0,6 Prozent ist dramatisch. Nimmt man den Stadtteil Moisling wegen der dortigen Umgestaltungen und einer darauf zurückzuführenden überdurchschnittlichen Leerstandsquote (2,1%) aus der Statistik heraus, um den Aussagewert des Indikators aufgrund eines Sondereffekts nicht zu verfälschen, ergibt sich eine Leerstandsquote von lediglich 0,4 Prozent, was nicht mehr nur dramatisch, sondern katastrophal ist. Üblicherweise sollte eine Leerstandsquote bzw. Mobilitätsreserve von 3 bis 5 Prozent vorhanden sein, damit ein Wohnungsmarkt einigermaßen ausgeglichen ist und gut funktioniert. Welche Auswirkungen der angespannte Wohnungsmarkt für Menschen mit sich bringt, die bezahlbaren Wohnraum dringend benötigen, erleben wir beim Mieterverein und erleben die vielen anderen Kolleginnen und Kollegen, die in der Sozialberatung tätig sind, seit inzwischen mehreren Jahren an jedem Arbeitstag in allen Facetten und in aller Härte.

Dem Bericht ist zu entnehmen, dass der Sozialwohnungsbestand aktuell nur noch 7.646 geförderte Wohnungen beträgt und bis zum Jahr 2030 um 3.065 Einheiten schrumpfen wird wohingegen die Zahl der Haushalte, die in der Wohnungsvermittlung als wohnungssuchend geführt werden und darauf warten, eine Sozialwohnung anmieten zu können, von 1.304 Ende 2019 auf 1.756 Haushalte Ende 2022 gestiegen ist. Mehr als 3.125 Personen mit Wohnberechtigungsschein warten also aktuell zum Teil seit vielen Monaten vergeblich darauf, eine geförderte Wohnung anmieten zu können. Unerwähnt bleibt im Bericht, dass gemäß Bürgerschaftsbeschluss ein Sozialwohnungsbestand von 10.000 Wohnungen angestrebt werden soll, der allerdings viel zu niedrig bemessen ist und mindestens 13.000 Wohnungen betragen müsste, was etwa 10 Prozent des vorhandenen Wohnungsbestandes entspricht. Wie dieses Ziel erreicht werden soll, bleibt schleierhaft. Hierzu heißt es im Bericht, dass bisher jährlich durchschnittlich rund 110 bezugsfertige öffentlich geförderte Wohnungen geschaffen worden seien und nach den jetzigen Planungen bis zu 1.710 geförderte Wohneinheiten geschaffen werden. Bis wann und wie das geschehen soll, wird nicht erwähnt. Um allein die bis 2030 aus der Bindung herausfallenden Sozialwohnungen zu kompensieren, müssten jährlich 450 Förderwohneinheiten entstehen. Will man die Zielmarke von 10.000 Sozialwohnungen oder den eigentlich notwendigen Bestand von 13.000 Sozialwohnungen bis 2030 erreichen, müssten jährlich 775 bzw. 1.200 Sozialwohnungen gebaut oder entsprechende Bindungen erworben werden. Der Vorschlag aus dem Rathaus, die Sozialwohnungsquote bei Neubau von derzeit 30 Prozent auf 40 Prozent anzuheben, ist mit Blick auf diese Daten weniger als nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Stattdessen ist die soziale Wohnraumförderung auf neue Füße und sind die Weichen in Richtung Neue Wohngemeinnützigkeit zu stellen, was der Deutsche Mieterbund seit Jahren fordert. Es ist höchste Zeit für den Aufbau von Wohnungsbeständen mit dauerhaft gebundenen Wohnungen in gemeinwohlorientierter Bewirtschaftung, die der Marktlogik entzogen sind und die Wohnungsmärkte auf ein notwendiges Mindestmaß an Versorgungssicherheit stabilisieren

In dem Bericht werden Bestandsmieten der „Immobilienwirtschaft“ aufgeführt ohne Hinweis darauf, welche Wohnungsunternehmen gemeint sind. Soweit zu vermuten ist, handelt es sich um Wohneinheiten der Trave und einiger Lübecker Genossenschaften, die noch über nennenswerte Sozialwohnungsbestände mit entsprechend günstigen Mieten verfügen. Unter Heranziehung der Mietobergrenzen, die bei Bezug von Leistungen nach SGB II (Hartz IV) und SGB XII (Sozialhilfe) vom jeweiligen Leistungsträger übernommen werden sowie unter Heranziehung der Wohngeldhöchstbeträge wird mit einem Prozentwert angegeben, wie viel Wohnraum mit diesen Höchstbeträgen von den relativ günstigen Bestandsmieten der „Immobilienwirtschaft“ angemietet werden könnte. Der Sinn, die Aussagekraft und der praktische Nutzen einer solchen Darstellung erschließt sich nicht. Denn in der Realität besteht der Mietwohnungsmarkt in Lübeck keineswegs nur aus dem Wohnungsbestand der Genossenschaften und der Trave, der weniger als ein Drittel des Lübecker Gesamtmietwohnungsbestandes ausmacht. Es ist unseriös, den Anschein zu erwecken, dass die Durchschnittsmieten dieser Unternehmen für den Gesamtmarkt repräsentativ und prägend seien.

Darüber hinaus sind nicht die Bestandmieten, sondern die Angebotsmieten das entscheidende Kriterium für Personen, die eine Wohnung anmieten wollen. Zur Entwicklung der Angebotsmieten enthält der Bericht die Aussage, dass lediglich nur noch 10 Prozent der Mietwohnungen für unter 10 Euro pro m²-Wohnfläche/Monat und 90 Prozent für mehr als 10 Euro angeboten werden. Der Fortgang des steilen Anstiegs bei den Angebotsmieten ist die logische Entwicklungsfolge eines äußerst angespannten unregulierten Wohnungsmarktes, der auf beiden Augen sozial blind ist. Zeitlich versetzt entwickeln sich die Bestandsmieten in einem ähnlichen Steigwinkel nach oben, zumal es aufgrund einer Begrenzung des Betrachtungszeitraumes im Zuge der Mietspiegelerstellung die teuren Angebotsmieten sind, die eine wesentliche Grundlage für die Ermittlung der ortsüblichen Miete als Maßstab für die Erhöhung von Bestandsmieten bilden und dazu beigetragen haben, dass sich die Bestandsmieten in Lübeck vom Mietspiegel 2018 zum Mietspiegel 2021 im Schnitt um 15,4 Prozent erhöht haben.

Die Nettokaltmieten, die Personen im Leistungsbezug in Lübeck im Betrachtungszeitraum zur Verfügung standen, betrugen ab 1.1.2019 für lange Zeit im Durchschnitt lediglich 6 Euro pro m²-Wohnfläche/Monat und wurden erst ab 1.4.2022 im Durchschnitt auf 7,95 Euro angehoben. Wie soll man mit einem solchen Betrag Angebotsmieten bezahlen können, die sich zu 90 Prozent jenseits von 10 Euro bewegen? Die Schlussfolgerung des Wohnungsmarktberichts, dass der Anteil preisgünstigen Wohnraums in Lübeck ausreichend sei und bis zu 92 Prozent betragen würde, hat mit der Realität und den verzweifelten Bemühungen vieler Menschen, eine für sie bezahlbare Wohnung finden und anmieten zu können, nichts zu tun.

Weiter ist dem Bericht zu entnehmen, dass in den Jahren 2019 bis 2021 im Durchschnitt 933 Wohneinheiten inklusive Ersatzneubau pro Jahr fertig gestellt worden seien. Die "Anzahl abgegangener Wohneinheiten" wird für diesen Zeitraum mit lediglich 26 angegeben. Dieser Wert erscheint viel zu niedrig und ist äußerst fragwürdig. Zu erinnern ist beispielhaft an den Abriss von 118 Wohnungen Anfang 2019 in der Ratzeburger Allee oder an den Abriss von jeweils etwa 35 Wohnungen in 2019 und 2021 im Andersenring. Wie hoch ist der Nettozuwachs an fertig gestellten Wohnungen nach Abzug abgerissener oder umgewidmeter Wohneinheiten wirklich? Eine vollständige Datenlage ist wichtig, damit Entscheidungsträger klar erkennen können, in welchen Segmenten und in welcher Anzahl ein Zusatzneubau tatsächlich stattgefunden hat und ob dieser auch dort stattfand, wo die Nachfrage am größten und der Versorgungsbedarf am dringendsten ist.

Nach unseren Beobachtungen findet ein Zuwachs von Wohneinheiten weiterhin vorrangig im Segment von Ein-, Zweifamilien- und Reihenhäusern statt, wohingegen es sich im Geschosswohnungsbau fast ausschließlich um Ersatzneubau handelt, also zunächst Wohneinheiten mit günstigen Mieten von 6 bis 7 Euro pro Quadratmeter abgerissen und an gleicher Stelle Wohneinheiten neu gebaut werden mit Mieten jenseits von 11 Euro. Insofern ist im Geschosswohnungsbau seit Jahren ein Abbau des preisgünstigen Mietwohnungsbestandes zu beobachten mit dem regelmäßig bemühten Argument, dass eine Sanierung der Wohngebäude wirtschaftlich nicht rentierlich sei.

Es ist dringend notwendig, den Schwerpunkt des Zusatzneubaus künftig auf den Geschosswohnungsbau zu legen mit einem Großteil an kleinen und seniorengerechten Wohnungen und Wohnungen für Familien, und zwar in einem Preissegment, welches auch für Menschen mit finanziell eingeschränkten Möglichkeiten, für Haushalte im Leistungsbezug und Personen mit niedrigen Renten bezahlbar ist. Denn hier sind die Nachfrage und der Bedarf mit Abstand am größten. Man muss kein Prophet sein, um erkennen zu können, dass die notwendigen Bedarfe im freifinanzierten und gebundenen Wohnungsbestand nicht ansatzweise kurzfristig erreichbar sind und damit zu rechnen ist, dass sich der Wohnungsmarkt weiter anspannen wird mit weiteren drastischen Mietsteigerungen und einer ebenfalls stark steigenden Zahl von Kündigungen und Räumungsklagen. Ein Bericht, der die vorhandene prekäre Lage im Bereich der Wohnraumversorgung nicht klar und ehrlich benennt und für etwaige Bedarfe auf einen weit in die Zukunft verlagerten Prognosezeitraum abstellt und künftig nur noch alle zwei Jahre herauskommen wird, ist kein geeignetes Instrument, um Politik, Verwaltung, Wohnungswirtschaft und Marktteilnehmern einen verlässlichen Überblick und eine belastbare Entscheidungsgrundlage zu geben.

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